„Du lernst für‘s Leben, nicht für die Schule.“ Wer in seiner Kindheit mit diesem Mantra malträtiert wurde, weiß wovon ich spreche, wenn es um unnützes Wissen in bestimmten Fachbereichen geht, die man im Leben niemals wieder benötigen wird. Zum Beispiel Kohlenstoffverbindungen: Methan, Ethan, Butan, Propan etc. hat man mir in zarter Pubertät mit psychischen Stockschlägen hochfrequent eingebläut. Wozu muss ich wissen, wie viele Kohlenstoffatome mit welchen Wasserstoffteilchen knutschen? Ich weiß, dass in meinen Campinggasflaschen kein Methan ist, und dass Kühe kein Propan furzen. Der Rest ist mir ehrlich egal.

Im praktischen Leben nützt Einem naturwissenschaftliches Halbwissen ebenso wenig. Als vor einiger Zeit ein Kunde anrief: „Andreas, hast Du Lust eine Reportage zu schneiden? Wir haben einen Film über Bhutan gedreht.“ „Über das Gas?!?“ „Nein Du Dödel, über das Land.“ Ach, es gibt ein Land, das Bhutan heißt? Es sind brillante Momente wie dieser, die mich in der intellektuellen Hochachtung meiner Mitmenschen immer wieder weit nach vorne bringen.

Natürlich fragt sich der geneigte Leser an dieser Stelle, wie der zwangseloquente Autor die Kurve von Butan über Bhutan zum Überführungstörn der Josa bekommen will. Doch Obacht! Das Stichwort heißt SSS.

Für die Nichtsegler unter Ihnen: Hinter der Abkürzung SSS verbirgt sich der „Sportseeschifferschein“, ein Wortkonstrukt, wie es sich nur deutsche Segelverbandsoberamtsratsschimmel (ha, Touché!) ausdenken können.

Der SSS ist die zweithöchste theoretische und die höchste praktische Qualifikation, die man im deutschen Freizeitsegelsport erlangen kann. Geprüft wird einerseits angewandte Praxis wie die Trinkfestigkeit im schicken Hafenetablissement, oder unilaterale Kommandoketten, mit denen die Frau vor dem Anlegen im Hafenbecken lautstark über das Vorschiff gejagt wird, während Mann mit lässiger Eleganz am Steuerrad steht, gelangweilt am Bugstrahlruderhebel knibbelt und mit den Umstehenden durch resigniertes Schulterzucken kommuniziert: Sie kann halt nicht schneller. Und Schuld hat sie auch, wenn das Anlegen mal wieder versemmelt wird.

Auch in theoretischen Fächern wird geprüft, zum Beispiel „Klugschwätzerei und ungefragte Tipps“ (vor allem bei vorgenannten  Hafenmanövern), „Gefährliches Halbwissen in Boots- und Motorentechnik“ sowie quasi allen anderen politischen und sozialen Bereichen des Lebens, und im Fach „Schamlose Übertreibung“, wie beispielsweise aus 3-4 Beaufort schnell eine Windstärke von 7-8 wird, und wie man eine Standard Ostseewelle im Handumdrehen von einem auf vier Meter anwachsen lässt, ohne dabei vor Scham im Hafenkneipenboden zu versinken. Zusatzqualifikation im Bereich „War ich schon, kenn ich schon, hab ich auch schon erlebt.“ können ebenfalls erworben werden.

Das war natürlich nur Spaß und soll den durchschnittlichen deutschen Freizeitsegler in feschem Helly-Hansen-Poloshirt mit maritimen Applikationen keinesfalls verunglimpfen.

Tatsächlich ist die Prüfung zum SSS kein Ponyhof. Die praktische Prüfung durchläuft man zwar (mitunter erfolgreich) schon nach einer guten Woche qualifiziertem Training, die Theorie jedoch kann Monate, wenn nicht sogar Jahre der Vorbereitung einnehmen. Hier geht es um detailliertes Fachwissen in den Bereichen Seerecht, Navigation, Seemannschaft und Wetterkunde. Also lauter Gesetzestexte, navigatorische Finessen und Begrifflichkeiten, die man sich an schier endlosen Abenden mühevoll einhämmern muss, um sie sofort nach bestandener Prüfung wie seekrank wieder über die intellektuelle Reling zu speien.

Eine der typischen zu lernenden Regeln ist KVR 5 (Kollisions Verhütungs Regel), Thema Ausguck: Jedes Fahrzeug muss zu jeder Zeit durch Hören, Sehen, Tasten, Fühlen, Schmecken, Riechen […] ausreichend Ausguck halten.

Ja, genau die Regel die unser Bobbele (nein, nicht der — der andere, der Herrmann) missachtet hat und in gefühlter Führungsposition gefühlte 100 Meter vor dem Ziel gegen ein nicht gefühltes, sondern sehr reales französisches Fischerboot gedengelt ist, was ihm aber nach einer fast kompletten Einhand-Weltumsegelung niemand übelnimmt. Außer vielleicht seine Fans, seine Familie, seine Freundin, seine Sponsoren, alle ihn unterstützenden Verbände und quasi jeder Deutsche, der ein Segelboot von einer LKW-Waschanlage unterscheiden kann. Aber Bobbele ist und bleibt trotzdem unser „Sieger der Herzen“, Missachtung der KVR hin oder her.

Eine andere Regel (KVR 7c) besagt: „Schlussfolgerungen aus unzureichenden Informationen sind zu vermeiden.“ Eine Regel also, die man nicht nur auf seemännische Navigation anwenden kann, sondern getrost auch auf 90% aller deutschen Kneipendiskussionen.

Neben solch sperrigen Gesetzestexten lernt man Kinderreime („Weiß über Rot ist ein Lotsenboot, la lala la la“) und Weisheiten wie „Segel links bringt‘s“ (schreiben Sie das in der Prüfung, und Sie sind automatisch durchgefallen, auch wenn Sie in der Sache völlig Recht haben). Selbst vor nationalem Stolz macht die Gesetzgebung nicht halt, denn hier heißt es: „Das Schiffszertifikat begründet das Recht und die Pflicht, die Bundesflagge von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu führen.“ Ob man beim Setzen des Adenauers (Fachjargon) allerdings leise die Nationalhymne summen soll oder darf, darüber schweigt sich die Gesetzgebung aus.

Gekrönt wird das Prüfungssammelsorium durch die ebenso komplexe wie kleinteilige Navigationsaufgaben, kreuz und quer über und durch den Englischen Kanal, angereichert mit teilweise völlig veralteten Rechnungsweisen für Strömungen und Gezeiten. Internet? Für uns alle Neuland. Auch bei der Prüfungskommission des Deutschen Seglerverbands.

Und genau hier endet die zugegebenermaßen ausschweifende Einleitung, und wir schlittern mit quietschenden Reifen in die Kurve, um den Bogen zum eigentlichen Thema „Überführungstörn“ doch noch zu kriegen.

Mein Kumpel Johannes (Sie kennen ihn bereits — der mit dem Ungleichgewicht zwischen Lateralplan und Bordzeit) fragte neulich, ob ich nicht Lust hätte einen Törn zu machen. Freunde von ihm wollen eine Yacht von Griechenland nach Kiel überführen und suchen Mitsegler.

Natürlich war ich sofort Feuer und Flamme, nahm Google Maps zur Hand und entschied mich umgehend für zwei Seegebiete, die ich unbedingt mitsegeln wollte: Den Golf von Biskaya, und den Englischen Kanal. Da es sich zeitlich sowohl für die Josa als auch für mich gut ausging, folgte ein Online-Meeting mit Sabine und Jochen, das ungefähr so verlief:

„Hallo, ich bin Andreas.“ / „Aha. Willst mit?“ / „Ja, sehr gerne, ich …“ / „Gut. Tschüss.“

Dem Jochen seine (GENITIV!!!!) typisch aufsprudelnde, plaudertaschenhafte Geschwätzigkeit.

Wir einigten uns schnell auf Porto als Einstiegsort (was übrigens nicht die Hauptstadt von Portugal ist, ein weiterer, brillanter Moment meines allumfassendes geopolitisches Halbwissens), und einen ungefähren Tag Anfang Juli, und los ging‘s.

Warum die beiden Gebiete? Genau, wegen des SSS: Die Biskaya gilt als technisch anspruchsvoll und ist allein ob ihrer Weite und der Öffnung zum Atlantik eine der wenigen Möglichkeiten, echtes Blauwassersegeln in Europa zu erleben. Und den Englischen Kanal wollte ich besegeln, weil ich unbedingt das Gebiet in real sehen wollte, wo ich schon 60 bis 80 mal mit dem Finger auf der Karte bzw. dem Bleistift am Navigationsdreieck entlang gefahren war.

Ohne den Leser mit zu vielen Details langweilen zu wollen (sind Sie eigentlich noch wach?), die in epischer Breite auch schon im Online-Logbuch stehen, beschränke ich mich nur auf die Eindrücke, die für mein „gelebtes SSS-Abenteuer“ von Belang sind.

Der erste Tag auf der Biskaya war gleichsam mein erster Ritt auf dem Atlantik, der sehr ambitioniert am Steuer hinter der Hafenausfahrt von Porto begann und todeselendig seekrank, eingeklemmt auf dem Schiffboden zwischen Schrankwand und Motorraum, endete, kurz nachdem ich mein Abendessen gerecht zwischen Atlantik, Klo und Vorschiffskoje aufgeteilt hatte. Als kleinen Tipp kann ich an dieser Stelle nur verlautbaren lassen, dass Sie auf die Frage „Sind Sie seefest?“ niemals mit „Ja!“ antworten sollten, solange Sie nicht auf dem Atlantik bei 3 Meter hoher Welle im Vorschiff geschlafen haben.

Zum Glück ging es mir bereits am nächsten Morgen deutlich besser, um nicht zu sagen, richtig gut, und ich begann die schier unendlichen Weiten der Biskaya vollends zu genießen. Bereits meine erste Nachschicht (also am zweiten Tag, am ersten Tag hat man mich aus vorgenannten Gründen nicht gelassen …) unter atemberaubendem Sternenhimmel, war unvergesslich schön. Und so ging es weiter, Tag um Tag, Nacht um Nacht.

Navigatorische Herausforderungen gab es tatsächlich wenig, aber alleine die Tatsache 5.000 Meter Wasser unter mir, und 300 Seemeilen blau-graues Nichts um mich herum zu haben, reichten aus, mich von Grund auf zu faszinieren. Als dann noch Delphine hinter uns hersprangen, und weit am Horizont sporadisch turmhohes Walgebläse auftauchten, fühlte ich mich vollends in meinem Element, neue Rechtschreibung hin oder her.

Die Gleichförmigkeit der Tage hatte sowohl etwas Beruhigendes als auch viel Meditatives. Kein Internet, kein Telefon, keine Kommunikation mit der Außenwelt. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang (festgehalten in ebenso zahllosen wie nichtssagenden Fotos). Und Wellen. Wellen. Wellen. Ab und an mal eine verirrte Möwe und, als Highlight des Tages, ein Schiff am Horizont. Wow! Wer hat eigentlich die EM gewonnen? Keine Ahnung. Mir doch egal (Kroatien war zu dem Zeitpunkt schon ausgeschieden).

Mein persönliches Highlight war die gelebte SSS-Wetterkunde, als wir eines schönen Tages ein komplettes Tiefdrucksystem durchliefen: Aufgestanden bei Nieselregel (Warmfront), dann während des Tages aufklarendes Wetter (Warmsektor), gegen Abend mit aufziehendem Regen und Schlechtwetter am Horizont (Kaltfront) … Wetterkunde in der Petrischale. Von diesem Phänomen war ich so begeistert, dass ich gar nicht aufhören konnte, meine Mitsegler über jedes kleinste Detail zu unterrichten. Was, gelinde gesagt, auf eher verhaltenes Interesse stieß. Dieser Umstand wiederum hielt mich keineswegs davon ab, weiter über Tiefdruckgebiete zu schwafeln. Die anderen konnten ja nicht weg – mitten auf der Biskaya sind die Flucht- und Versteck-Möglichkeiten auf einer 14m-Yacht eingeschränkt.

Obwohl es nichts, aber auch gar nichts zu tun gab (außer die eine oder andere sporadische Wende, gefühlt alle zwei bis drei Tage), wurde es nicht langweilig. Voller Inbrunst malte ich kleine Positionskreuzchen mit Bleistift in die Seekarte, bis die Seekarte irgendwann zu Ende war, und fachsimpelte mit Jochen schon Tage vorher, über den 1000-Seiten starken Reeds 2021 gebeugt, wie, wann und wo welche Atlantik-Strömung herrscht, und wie es optimal in den Englischen Kanal einzufahren galt. Vermisst habe ich in den acht Tagen auf der Biskaya gar nichts … außer meine Freundin Susi. Aber jetzt reicht’s auch mit Romantik.

Der Tag kam, als wir „Ecke Brest“ abbogen, und im Ärmelkanal ankamen. Und hui! Es gab wieder Internet. Für eine gute Stunde. Aber das reichte, um ein paar Nachrichten an die Liebsten zu schreiben (Hallo. Mir geht’s gut. Tschüss.) und sich die wichtigen aber tatsächlich sehr unspektakulären Wetterinformation herunterzuladen.

Der Kanal selbst war ähnlich langweilig wie die Wetterinformationen. All die tollen Tonnen, die ich aus den SSS-Prüfungsfragen kannte, die VTGs (sowas wie Autobahnen für die Großschifffahrt), und wohlklingenden englischen und französischen Kanalinseln, die es zu umschiffen galt, haben wir weder großartig gesehen, noch haben sie uns auf unserem Weg gestört. Ganz großen Spaß hat nur der Gegenstrom gebracht, der uns auf die wanderdünenhafte Geschwindigkeit von sage und schreibe 1,5 Knoten gegenbeschleunigte. Ein Rentnerehepaar mit Rollator wäre locker an uns vorbeigezogen, und hätte dabei noch die Apotheken-Umschau lesen können.

Zugegeben, ich habe mir die Städtchen mit den wohlklingenden Namen wie Cherbourg, Cap D‘Antifer und Le Havre romantischer vorgestellt. Tatsächlich sind es keine kleinen Fischerdörfchen mit sonnengebräunten Franzosen in blau-weiß gestreiften Hemden, die ein lustig Liedchen auf den Lippen am Strand Doraden und Kabeljau aus Fischernetzen fummeln, während junge Damen im frischen Brigitte-Bardot-Look das gleichsam frische Fanggut den Gästen in offenen Körben und eben solchen Dekolletés lächelnd feilbieten, sondern es sind hässliche graue Industriekomplexe mit braunem Smog über einem Horizont voller Schornsteine. Realität? Check! Zu sagen, Cherbourg hatte in „Saving Private Ryan“ mehr Charme als heutzutage, ist natürlich nicht angebracht. Aber irgendwie zutreffend.

Trotzdem habe ich auf dieser Reise sehr, sehr viel gelernt und noch viel mehr erfahren. Zum Beispiel, dass französische Treibnetzfischer einen Scheiss (Merde!) darauf geben, das seemännisch korrekte Signal zu setzen (s. Abschnitt: Unser Bobbele), aber einen trotzdem ganz lieb anfunken, wenn man deren Steuerbordschwenkmanöver stören könnte. Seglerisch und SSS-technisch hat mich der Törn weit nach vorne gebracht. Allein das ständige Rumgedrücke auf dem schnieken, neuen B&G Plotter mit den tollen Funktionen und dem Piep! hat mir richtig Spaß gemacht. Und einen Schokoriegel hat man mir für die Nachschicht auch gegeben.

Wann hat man schon mal die Gelegenheit, mit sich, der Welt und allem Drumherum in völligem Einklang nur so dahin zu segeln, und alles das zu Erleben was man nur aus der drögen Theorie kennt?

Danke nochmal, dass ich mitfahren und dieses unvergessliche Ereignis miterleben durfte. Und ehrlich, ich scheiss auf Eure Sterne.

Kurve gekriegt?

Mast und Schotbruch auf Euren seglerischen Wegen,

Andreas

Dieser Gastbeitrag wurde größtenteils während langer Nachtschichten unter Zwangsentzug von Alkohol und Zigaretten an Bord der Josa geschrieben. Daher bittet der Autor um Verzeihung für Länge und konfusen Inhalt. Verrückt war ich schon vorher. Jetzt bin ich wahnsinnig.

Sabine: lieber Andi, vielen Dank für Deine Mitfahrt und Deinen Versuch, mich an Deinen Wetterkenntnissen teilhaben zu lassen. Ich hab mir schon einiges gemerkt :-). Vielen Dank auch für Deine tollen Bilder und Videos. Gut zu Wissen, daß wir für alles einen entsprechenden Profi an Bord hatten. Sei es Lateralplan oder Wetter……..